Leseprobe "Der Baron Bagge"

Alexander Lernet-Holenia

Zusammenfassung

Winter 1915, Erster Weltkrieg: Der junge österreichische Leutnant Baron Bagge erkundet mit seiner Schwadron in den nördlichen Karpaten die Lage an der russischen Front. Nahe des Dorfes Hor werden die Reiter an einer Brücke in ein kurzes, aber intensives Gefecht verwickelt, das sie mit großer Anstrengung überstehen. Bagge wird dabei von einem aufgewirbelten Stein- oder Eisbrocken and der Schläfe getroffen,, kann aber die kleine ungarische Garnisonstadt Nagy-Mihaly noch erreichen, wo ihn Freunde seiner Familie ganz selbstverständlich in ihren Kreis aufnehmen. Als sei ihm dies alles vorherbestimmt, heiratet er die ihm aus den Erzählungen seiner Mutter nur flüchtig bekannte Tochter des Hauses. So rätselhaft wie das vom Krieg scheinbar völlig unberührte Leben in dem Städtchen gestalten sich nun auch die Aufklärungsmissionen der Schwadron: Im düsteren Licht der wolkenverhangenen Winterlandschaft ist von feindlichen Truppen weit und breit nichts zu bemerken. Als sie aufs neue die Brücke eines unbewohnten Tales passieren, erscheint sie dem entkräfteten Bagge, als sei sie mit Gold beschlagen. Er wird sich nun endgültig seines Traumes bewusst, erwacht und findet sich schwer verletzt auf jener Brücke, wo das Gefecht eingangs stattgefunden hat. Bis auf wenige Kameraden ist seine Patrouille aufgerieben. Die Brocken, die ihn getroffen haben, waren Geschosse gewesen. Das Städtchen Nagy- Mihaly, die Heirat, die Feste gab es nur im Traum, sie waren Visionen aus einem Zwischenreich von Leben und Tod.

Leseprobe < Der Baron Bagge >"


Semler galt für einen fahrigen und unberechenbaren Charakter, und es gab Leute, die sogar schlechtweg behaupten, er sei einfach ein Narr. Auf jeden Fall mochte das Leben in den kleinen polnischen Garnisonen, in denen das Regiment während der letzten Jahre gelegen, die Langeweile dortselbst und das viele Trinken ihm nicht gut getan haben und auf die Nerven gefallen sein. Zudem war er erblich wohl auch irgendwie belastet.

Bei den Semlers soll die Überspanntheit durch eine gewisse Frau von Neumann in die Familie gekommen sein. Die Neumann, heißt es, brachte nacheinander fünf oder sechs ihrer Männer um, bis der letzte von ihnen, ein Schwarzenberg oder Lobkowitz, Herr über sie wurde. Man hatte mir das, als ich klein war, oft erzählt. Doch sind es vielleicht wirklich bloß Kindergeschichten gewesen. Äußerlich jedenfalls merkte man Semlern den Spleen durchaus nicht an. Er konnte sogar sehr liebenswürdig sein. Aber in kritischen Momenten ward er auf einmal ganz unberechenbar. Das sollte sich denn auch alsbald erweisen. Er wurde nicht nur schuld an seinem eigenen Tode, sonder auch am Tod Hamiltons, Maltitz’ und an dem von hundertzwanzig Unteroffizieren und Dragonern. Auch an meinem Tod wäre er um ein Haar schuld geworden. Aber vielleicht war es doch nicht so, dass er wirklich schuld war. Vielleicht war seine Narrheit bloß irgendein Mittel zu irgendeinem Zweck. Vielleicht war die Katastrophe, in die er seine Schwadron geführt hat, die Opferung dieser ganzen Hekatombe von Menschen und Rossen, nur dazu da, damit etwas, das im Bereiche des Lebens, weil es zu spät war, nicht mehr geschehen konnte, nach dem Leben geschehe, im Tode also, würde man sagen – aber es geschah doch nicht eigentlich im Tod, sondern in jener Zeit und in jenem Raum, die zwischen dem Sterben und dem wirklichen Totsein liegen. Denn dass es da ein Intervall gebe, halten viele für sicher. Nach einigen währt es nur Augenblicke, nach anderen Tage, äußerstenfalls, sagt man, neune. Sonst hätte man doch auch, zumindest früher, die Toten schneller begraben oder verbrannt. Aber es gab Zeiten, in denen man, im ältesten Russland zum Beispiel, über eine Woche wartete, ehe man sie bestattete. Allein was ist der wirkliche Unterschied zwischen Augenblicken und Wochen.

Aus: Alexander Lernet-Holenia: Der Baron Bagge. © Paul Zsolnay Verlag Wien 1960 und 1998. Weitere Werke siehe auch http://www.zsolnay.at